19. Dezember 2011

Was ist eigentlich … Rekristallisation?

Rekristallisation beschreibt in der Metallkunde den Abbau von Gitterfehlern durch Neubildung des Gefüges aufgrund von Keimbildung und Kornwachstum. Was bedeutet das? Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass ein metallischer Werkstoff, wenn man ihn bei Raumtemperatur verformt, z.B. durch wiederholtes Hin-und-her-Biegen, fester wird. Wir sagen: der Werkstoff verfestigt. Da Raumtemperatur, verglichen mit sonst üblichen Temperaturen, bei der Metallverarbeitung eher kalt ist, sprechen wir auch von Kaltverfestigung. Was passiert nun bei der Kaltverfestigung? Die Verformung metallischer Werkstoffe ist ganz wesentlich von Versetzungen abhängig. Das sind Fehler im Kristallaufbau, die durch ihre Bewegung jede beliebige makroskopische Formänderung des Werkstoffs erzeugen können. Wird nun die Bewegung der Versetzungen behindert, kann sich der Werkstoff nicht mehr weiter verformen, er wird zunehmend fester. Wie können wir die Bewegung von Versetzungen behindern? Ganz einfach, indem wir immer mehr Versetzungen in den Werkstoff hineinpacken. Dann kommt es zum Stau, wie auf der Autobahn. Unser kaltverfestigter Werkstoff enthält also ziemlich viele Versetzungen, die sich alle gegenseitig daran hindern, durch den Werkstoff zu laufen.

Was ist nun, wenn wir aber den Werkstoff weiter verformen wollen? Dann müssen wir zuerst einen ganzen Teil der Versetzungen loswerden, damit sich die anderen wieder ungehindert bewegen können. Jetzt kommt die Rekristallisation ins Spiel. Wir schauen uns noch einmal den ersten Satz an: „Rekristallisation beschreibt in der Metallkunde den Abbau von Gitterfehlern …“. „Abbau von Gitterfehlern“ bezieht sich also hauptsächlich auf den Abbau der hinderlichen Versetzungen. Wie werden die Versetzungen abgebaut? Durch Keimbildung und Kornwachstum. Im verformten Werkstoff werden also neue Körner gebildet, deren Wachstum die störenden Versetzungen beseitigt. Das ist ganz ähnlich dem Erstarrungsvorgang, bei dem in der Schmelze Keime gebildet werden, die dann wachsen und schließlich den Festkörper ergeben. Unterschied ist allerdings, dass der Werkstoff während des ganzen Vorgangs der Rekristallisation fest bleibt.

Rekristallisation erfolgt bei einer Rekristallisationsglühung, d.h. in der Regel bei höheren Temperaturen. Bei Stählen liegen z.B. Rekristallisationstemperaturen zwischen 600°C und 700°C vor. Es bilden sich neue Körner im Werkstoff, die von Korngrenzen umgeben sind. Die Bewegung der Korngrenzen sorgt dafür, dass die neugebildeten Körner wachsen. Bei dieser Korngrenzenbewegung werden die hinderlichen Versetzungen durch die Korngrenzen aufgesammelt, so ähnlich wie der Schmutz beim Staubsaugen. Hinter den Korngrenzen, d.h. innerhalb der neugebildeten Körner gibt es dann nur noch wenige, aber wieder bewegliche Versetzungen. Diesen Vorgang kann man gut beobachten, indem man z.B. die Härte im Verlauf der Rekristallisation bestimmt. Die Härte ist ein gutes Maß für die Zahl der hinderlichen Versetzungen. Nimmt die Härte ab, bedeutet das, dass auch die Zahl der Versetzungen abnimmt.

Rekristallisation Grafik
Die erste Abbildung zeigt einen typischen Härteverlauf während der Rekristallisation. Am Anfang passiert erst einmal gar nichts – das ist die sogenannte Inkubationszeit. In dieser Zeit müssen zunächst neue Körner gebildet werden. Sobald diese wachsen, sinkt die Härte, da mit dem Wachsen der Körner eine Abnahme der Zahl der Gitterfehler verbunden ist.

In der zweiten Abbildung ist der Ablauf der Rekristallisation veranschaulicht. Das erste Bild (t=0min) zeigt den Werkstoff nach der Kaltverformung, in diesem Fall nach dem Kaltwalzen. Man kann gut die durch das Walzen langgestreckten Körner erkennen. Nach drei Minuten Glühung zeigt sich bereits ein neues Korn im Werkstoff. Man erkennt, dass innerhalb dieses neuen Korns kaum weitere Strukturen, die auf Gitterfehler hindeuten, zu erkennen sind. Die neugebildeten Körner sind stets ziemlich fehlerfrei. Im weiteren Verlauf der Glühung erscheinen zunächst immer weitere Körner. Außerdem können die bereits vorhandenen neuen Körner wachsen.

Nach 3,5 Minuten schließlich ist fast die gesamte Struktur des Walzens verschwunden, die neu gebildeten Körner sind nun so groß, dass sie zusammenstoßen. An diesem Punkt ist die Rekristallisation beendet. Weiteres Glühen bewirkt nun ein weiteres Wachstum der Körner, wie im letzten Bild zu erkennen ist. Das ist in der Regel unerwünscht. Man möchte das Ende der Rekristallisation möglichst gut abpassen, damit man einen Werkstoff mit kleinen, ähnlich großen Körnern erhält. Werkstoffe mit feinkörnigen Strukturen zeichnen sich nämlich durch besonders gute Eigenschaften aus.

rekristallisation

Mit Hilfe der Rekristallisation ist man demnach in der Lage, die Struktur eines Werkstoffs zu beeinflussen, die Zahl der Gitterfehler zu reduzieren und die Größe der Körner zu verändern. Das ist immer dann interessant, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, die Korngröße zu beeinflussen, z.B. in umwandlungsfreien Stählen. Bei Stählen, die Umwandlungen durchlaufen, lässt sich die Korngröße ebenfalls durch das Normalisierungsglühen, auch Normalglühen genannt, verändern.

Voraussetzung für die Rekristallisation ist aber, dass eine bestimmte Menge an Gitterfehlern im Werkstoff vorhanden ist. Die Rekristallisationstemperatur (Temperatur, die bei der Rekristallisation stattfindet) steigt mit abnehmender Zahl an Gitterfehlern. Daher gibt es eine kritische Gitterfehlerzahl, unterhalb derer keine Rekristallisation mehr stattfinden kann. Technisch betrachtet man aber nicht die Zahl der Gitterfehler, sondern die Größe der Verformung – den sogenannten Umformgrad, da sich dieser leichter ermitteln lässt als die Zahl der Gitterfehler. Unterhalb eines kritischen Umformgrades (ca. 5%) findet keine Rekristallisation mehr statt.

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